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Tina Sauerländer

'Nur durch die Auseinandersetzung mit unbekanntem Terrain ist gesellschaftlicher Wandel möglich' (Tina Sauerländer)

Tina Sauerländer ist Kunsthistorikerin, Kuratorin, Rednerin und Autorin und lebt in Berlin.

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Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf dem Einfluss des Digitalen und des Internets auf individuelle Umfelder und Gesellschaft sowie auf die virtuelle Realität in der bildenden Kunst. Sie ist Künstlerische Leiterin des VR ART PRIZE by DKB in Kooperation mit dem CAA Berlin. Mit ihrer unabhängigen Ausstellungsplattform peer to space kuratiert und organisiert sie seit 2010 internationale Gruppenausstellungen. Sie ist Mitbegründerin von Radiance VR, einer internationalen Online-Plattform und Forschungsdatenbank für Virtual-Reality-Erfahrungen in der bildenden Kunst. Sie ist Doktorandin an der Universität für Kunst und Design Linz, Österreich, und forscht zur künstlerischen Selbstdarstellung in der digitalen Kunst. Sie ist die Gründerin von SALOON, einem internationalen Netzwerk für in der Kunst arbeitende Frauen (aktiv in 10 Städten).

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Seit 2010 kuratiert und organisiert Tina Sauerländer internationale Gruppenausstellungen, z.B. The 'Unframed World. Virtuelle Realität als künstlerisches Medium für das 21. Jahrhundert' an der HeK Basel im Jahr 2017. Zusammen mit dem Kurator Erandy Vergara entwickelte sie die Ausstellungsreihe 'Critical Approaches in Virtual Reality Art' und realisierte Projekte wie 'Envisioning the Future. Andere Weltperspektiven in der Virtual-Reality-Kunst' (Halcyon Arts Lab, Washington, DC, 2018) oder 'Spekulative Kulturen. A Virtual Reality Art Exhibition' (Kellen Gallery, Parsons/The New School, New York, 2019).

MADELEINE SCHWINGE:

Welchen Einfluss kann Kunst auf gesellschaftlichen Wandel haben? Können Künstler mit ihrem Werk persönliche und gesellschaftliche Veränderungen anregen? Was ist Deiner Meinung nach die Verantwortung von zeitgenössischer Kunst und was die Rolle von Künstlern in der Gesellschaft?

TINA SAUERLAENDER:

Künstler*innen reflektieren unser Dasein in ihren Arbeiten in vielerlei Facetten. Oft dient die eigene Situation, die eigene Geschichte als Ausgangspunkt ihrer schöpferischen Tätigkeit. Kunstwerke thematisieren Zustände unserer Gesellschaft, denen häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Auseinandersetzung mit Kunst bedeutet daher immer auch eine Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft, unseren Lebensumständen oder unserer Geschichte und damit vor allem auch uns selbst.

 

Ich persönlich wünsche mir, dass viele Menschen diese Art einer Auseinandersetzung anstreben, da Selbstreflektion meines Erachtens ein wichtiger Faktor für gesellschaftlichen Wandel darstellt. Leider hat Kunst für viele Menschen ein unnahbares, lebensfernes oder auch elitäres Image. Kunst ist etwas, das auf einem Sockel steht und sich in den „heiligen Hallen“ des Museums oder des White Cubes befindet, für die Kunst heute oft geschaffen wird. Das liegt auch daran, dass mit der Entstehung der Museen viele Kunstwerke zwar einem breiterem Publikum zugänglich gemacht werden konnten, aber gleichzeitig auch aus dem Alltag der Menschen entfernt wurden. An den Museumswänden hängen Altargemälde, die eigentlich aus Kirchen stammen, sowie Portraits und Landschaftsbilder aus Schlössern oder Adelshäusern. Sie wurden ihrer ursprünglichen Umgebung beraubt.

 

Welche Möglichkeiten bieten sich heute, um Kunst zugänglich zu machen und möglichst viele Menschen zu erreichen? Das Internet ist eine Option. Digitale Kunst, die auf Websiten, mithilfe von Apps oder auf sozialen Medien stattfindet, birgt großes Potenzial. Mit Tools, die wir im Alltag verwenden, wie dem Computer und dem Smartphone, schafft man einen offenen Zugang. Das gleiche gilt auch für Medien wie Augmented Reality und Virtual Reality. Auch wenn heute noch nicht jeder ein VR-Headset zu Hause hat, ermöglicht diese Technologie es, in viele verschiedene Welten einzutauchen. Eine davon ist Kunst. Schon heute schaffen Künstler*innen spannende Kunstwerke für die VR-Brille. Eine große Auswahl solcher Arbeiten ist auf RadianceVR.co dokumentiert.​

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MS:

Welche Rolle kann Erzählung in Zeiten von großen Krisen und Umbrüchen spielen?

Angesichts der großen Herausforderungen, die unsere aktuelle Epoche prägen - dürfen wir es da überhaupt wagen, zu hoffen und eine bessere Zukunft zu imaginieren?

TS:

Erzählungen haben vielfältige Bedeutungen, die oft beinhalten, dass das Erzählte nicht unbedingt wahr ist, aber wahr sein kann oder es durch die Erzählung zur Wahrheit wird. So vermitteln Märchen moralische Werte und Handlungsanweisungen, die in das Leben hineinwirken. Meist hat man selbst nicht die Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt von Erzählungen zu überprüfen. Dieser wird zu einer Glaubensfrage. Glaubwürdigkeit ist meist davon abhängig, ob das Erzählte in sich schlüssig ist und die narrative Struktur einen Sinn ergibt. Es scheint zutiefst menschlich zu sein, solche Narrative zu suchen oder zu kreieren.

Dieses Verhaltensmuster spielt bei der Betrachtung von Kunst eine wichtige Rolle. Künstler*innen unterbrechen häufig geradlinige Erzählstrukturen bewusst, um Raum für die Projektionen der Betrachter*innen und damit der Rezeption des Werkes zu geben. Diese Offenheit ist besonders bei abstrakten Gemälden evident. In sie versuchen Menschen oft etwas Gegenständliches hineinzulesen, das sie selbst aus ihrem Leben kennen. Im Alltag allerdings scheinen uneindeutige, auch komplexe Narrative durchaus befremdlich und verunsichernd auf Menschen zu wirken, weil eben keine klare Form und Kausalität gegeben ist.

 

Vor allem in Krisenzeiten spiegeln sich solche Verhaltensweisen in unserem Umgang mit den Erzählungen in den Medien wider. Denn auch hier sind vermeintliche Fakten von Einzelnen nicht überprüfbar und stellen somit eine Glaubensfrage dar. Der Glaube jedes Individuums wird zu einem politischen Statement, der die Gesellschaft formt. Menschen können sich dafür entscheiden, sich im Sinne des Wohlergehens der Gesellschaft zu verhalten oder eben nicht. Es ist so ähnlich wie mit den Märchen: Ich entscheide selbst, ob ich dem Vorbild der fürsorglichen Schneewittchen oder lieber dem der bösen Stiefmutter folge.  

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MS:

Wie könnte ein Dialog zwischen Kunst und anderen Disziplinen aussehen, um gesellschaftlichen Wandel zu fördern und Zukunft zu gestalten? Mit welchen anderen Diszipinen würdest du gerne in Austausch kommen? Welche Impulse und neuen Ideen könnten daraus hervorgehen?

TS:

Ganz konkret ist ein Austausch von Kunst an alltäglichen Orten wichtig: in Büros, in Lobbies, in Bars, in Restaurants oder generell im öffentlichen Raum, immer dort wo man Menschen erreicht, die nicht notwendigerweise gezielt ins Museum gehen oder Kunstorte aufsuchen. Oft ist es allerdings so, dass sich Akteur*innen der Kunstszene scheuen, an (zu) kunstfernen Orten aufzutreten oder es ihnen schwer fällt, diese Zugänge zu finden und zu schaffen. Im digitalen Bereich ist das anders.

 

Das Internet ist offener und es gibt selten vordefinierte Kunstorte. Vor allem Kunst, die in sozialen Medien stattfindet, ist ein sehr wichtiges Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel. Künstlerinnen wie Petra Collins, Molly Soda oder Arvida Byström posten Bilder von sich, die sie z.B. mit Achselhaaren zeigen – ein Verstoß gegen die Instagram-Guidelines und dem gängigen gesellschaftlichen Idealbild. Die Künstlerinnen propagieren in ihren Posts ein selbstbewusstes Selbstbild, dessen ästhetisch-körperliche Darstellung von einer auf Instagram gültigen Norm abweicht. Sie alle haben eine große Anzahl von Followern, Arvida Byström 220.000 und fast 64.000, Petra Collins 925.000. Damit sind die Influenzerinnen nicht nur Vorbilder für junge Frauen, sondern protestieren gegen einschränkende Darstellungsmöglichkeiten. Sie setzen sich für das Recht am eigenen Bild und für die Sichtbarkeit dessen ein und sie verbreiten ein diverseres öffentliches weibliches Körperbild. Soda und Byström haben sogar ein Buch herausgegeben, in dem sie Bilder von sich, Freund*innen und Kolleg*innen versammeln, die Instagram gelöscht hat. Ihr Erfolg ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie Kunst gesellschaftlichen Wandel bewirkt. Ohne die Sichtbarkeit und breite Zugänglichkeit im Internet wäre das in dieser Form nicht möglich gewesen. 

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MS:

Was wünscht du dir für ein besseres Morgen? Angenommen es gelänge, eine bessere Welt auf den Ruinen der alten aufzubauen - wie sähe diese deiner Meinung nach aus?

TS:

Ich wünsche mir, dass Geldgier und Egoismus aussterben. Ich wünsche mir, dass Menschen an das Wohl der Gesellschft genauso wie an ihr eigenes Wohlergehen denken. Ich wünsche mir, dass all die jetzigen Bemühungen um die Sichtbarkeit von Minderheiten in unserer Gesellschaft erfolgreich sind und wir damit die Strukturen nachhaltig verändern. Ich wünsche mir, dass die Standardwerke des Schulbetriebs, die Lehrbücher der Kunstgeschichte und anderer Fächer diese Diversität abbilden. Ich wünsche mir, dass Geschichtsunterricht nicht nur aus Jahreszahlen und weißen, männlichen Narrativen besteht, sondern Zusammenhänge und Entwicklungen über Jahrhunderte hinweg schildert, um deren Einfluss auf unsere heutige Gesellschft thematisiert. Ich wünsche mir mehr historisches Bewusstsein in der Bevölkerung, weil dieses ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der heutigen Zeit ist. Ich wünsche mir, dass Menschen ihr eigenes Verhalten und das der anderen analysieren und kritisch reflektieren. Ich wünsche mir, dass Menschen sich ihrer Ängste bewusst werden und versuchen, sich nicht unbewusst davon leiten zu lassen. Ich wünsche mir mehr Fürsorge für traumatisierte, vernächlässigte Kinder, damit sie zu empathischen, toleranten Menschen heranwachsen und die Zukunft der Welt positiv und nachhaltig mitgestalten können. Ich wünsche mir, dass Schulkinder in Israel Arabisch und Schulkinder in Palästina Hebräisch lernen, damit irgendwann eine Verständigung möglich ist. Ich wünsche mir, dass ein Leben in Frieden in allen Teilen der Welt möglich ist. Weltfrieden bleibt auch für mich die größte Utopie, auch wenn es kitschig klingt.

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MS:

Es wird ja oft gesagt, die besondere Kraft von Kunst bestünde darin, stets mutig und unerschrocken das Neue zu suchen und immer wieder auf einem leeren Stück Papier ganz von vorne zu beginnen. Hast Du für dich Strategien, Rituale oder Techniken entwickelt, um den Weg in ein neues Projekt zu finden oder mit einer neuen Arbeit zu beginnen?

TS:

Eine der größten Qualitäten der Kunst ist es, Neuem und Anderem gegenüber offen und unvoreingenommen zu begegnen. Diese Eigenschaft ist eine sehr wichtige, die in der Gesellschaft Positives bewirken würde, wenn sich jeder entsprechend dieser Maxime verhielte. Bei Menschen, die es gewohnt sind, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, ist diese Eigenschaft oft stärker ausgeprägt, weil die Rezeption von Kunst Offenheit voraussetzt.

Mein eigenes Arbeitsumfeld als freie Kuratorin für digitale Medien und Internetkultur ist stark von einem ständigen Umgang mit Veränderung geprägt. Meine Projekte starten ebenfalls, im übertragenen Sinne, auf einem leeren Stück Papier. Mir stehen alle Möglichkeiten offen, wenn ich eine Ausstellung kuratieren möchte. Dabei geht es mir vor allem darum, die Zustände und Entwicklungen der Gesellschaft zu reflektieren und die richtigen Fragen zu stellen. Welche Themen sind gesellschaftlich relevant? Wie beschäftigen sich Künstler*innen damit? Wie kann ich Künstler*innen aus verschiedenen Umfeldern finden und ihre Arbeiten in einer Ausstellung zu einem facettenreichen Gesamteindruck zusammenbringen und in Dialog zueinander setzen?

Sich mit Neuem zu beschäftigen, ist stets mit Herausforderungen verbunden. Wenn es leicht und einfach geht, ist das ein Zeichen dafür, dass man sich gewohnten Strukturen hingibt. Mit meinen Ausstellungen versuche ich stets gewohnte Strukturen und Komfortzonen zu verlassen und diese Haltung auch an die Künstler*innen weiterzugeben. Ich möchte auch sie herausfordern, etwas Neues zu probieren.

 

Beim VR KUNSTPREIS der DKB in Kooperation mit CAA Berlin werden Künstler*innen, die eigentlich mit Virtual Reality arbeiten, herausgefordert und aufgefordert, physische Installationen zu ihren virtuellen Arbeiten zu entwerfen. Mit der Online-Ausstellung Claiming-Needles.net (2018) zum Thema Embroidery Art haben die Kuratorinnen Peggy Schoenegge und Darja Zub ein gänzlich physisches Medium in einer Ausstellung im digitalen Bereich untergebracht. Und bei der Ausstellung Bunch of Kunst in Quarantine // Paradox Paradise, die ich gemeinsam mit Mara-Johanna Kölmel für das neue Online-Art-Center Kara Agora auf der Plattform Mozilla Hubs kuratiere, bitten wir Künstler*innen, ihre Skulpturen für den digitalen Raum in 3D-Modelle umzuwandeln. Als Kuratorinnen loten wir bewusst die Grenzen und Möglichkeiten des virtuellen Raumes mit den Installationen aus. Meines Erachtens ist nur durch die Auseinandersetzung mit unbekanntem Terrain gesellschaftlicher Wandel möglich.

 

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The interview was conducted in August 2020

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www.peertospace.eu

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